Jeck unterwegs: Auf dem Speedway zum großen Loch
Alter Markt oder Rennrad?
Vor einem Jahr stellte sich die Frage, wie viele Teammitglieder am Tag nach dem 11.11. fahrtüchtig sind. Womit klar war, dass sich heute – aufgrund der Verschiebung der Tage – die Frage stellt, wie viele Teammitglieder um 9.30 Uhr am Treffpunkt sind. Und wie viele um 11.11 Uhr am Alter Markt. Gerade nachdem der FC es sich nicht hat nehmen lassen, in seinen (das muss ein den Karneval nicht mögender Gladbach-Fan an dieser Stelle zugeben) wunderbaren Karnevaltrikots den Beginn der "fünften Jahreszeit" mit einem Torfestival einzuleiten. Beide Termine wahrzunehmen wird schwierig. Die Geschichte jedoch hat gezeigt, dass die Festivitäten lange genug dauern, um auch nach der Ausfahrt noch ausgiebig feiern zu können. Und Bier (auch Kölsch) hat ja durchaus isotonische Eigenschaften. Ich, der in Niedersachsen geboren bin, Karneval als Fasching kennen gelernt und dessen Faszination nordisch nüchtern (und auch nordisch besoffen) irgendwie nicht nachzuvollziehen gelernt habe, entscheide mich für den Treffpunkt um 9.30 Uhr. Unverkleidet, oder zumindest nicht mehr verkleidet als an anderen Sonntagen.
Sonntagmorgenmuffelig unjeck

Erstaunlich viele, lautet die Antwort auf die diesjährige Frage. In einer Zahl: 35. Wie gesagt, nach hinten raus ist ja noch massig Luft und isotonische Getränke wollen verdient sein. Zwei Gruppen machen sich in entgegengesetzter Fahrtrichtung vom Treffpunkt LVR-Schule in der Belvederrestraße auf den Weg. Wenn ich schätzen müsste: 14 in der Cappuchino-Gruppe, 21 bei den Espressos. Ich empfinde den Beginn bei den Espressos sehr hektisch, das Tempo ist hoch, es reißen Lücken, "Kürzer"-Rufe verlieren sich auf dem Weg an die Spitze der Gruppe im Gegenwind. Hinzukommt, dass wir auf dem Weg aus der Stadt raus auf viel befahrenen Straßen unterwegs sind. Als wir schließlich den autofreien Weg an der Glessener Höhe vorbei einschlagen, wird es etwas ruhiger – dennoch kommen erstaunlicherweise vom vorderen Teil der Gruppe viele Rufe, die nicht so eindeutig zu identifizieren sind. Rufe, deren Sinn sich vom Ende der Gruppe nicht wirklich erschließen lässt, und wohl deshalb so zu einer Art alarmierter Irritation führen, jedenfalls bei mir. Liegt es womöglich am Datum, und sind es Rufe, die Entzückung, Freude und närrischer Ausgelassenheit Ausdruck verleihen soll. Und wenn ja, so fragt sich der sonntagmorgenmufflige, unjecke Niedersachse am Ende des Feldes: Muss das so?
Der "Stille-Post"-Effekt
Es kulminiert am Ende des Weges, an einer aufgrund von Büschen nicht einsehbaren 90-Grad-Kurve. Nicht identifizierbare, hellvokallastige Rufe von außerhalb des Sichtfeldes dringen in Hörweite des Feldendes. Und irritieren nun mehr nicht nur mürrische Niedersachsen. Fragen kommen auf. Ist da was passiert, wenn ja, was genau? Und ist es schlimm? Vielleicht ein Sturz, vielleicht nur Gegenverkehr?

Der Weg ist eng, hinter der Kurve leicht abschüssig und wird gerne von Reitern benutzt. Leichte Unsicherheit macht sich im Teil der Gruppe vor der Kurve breit. Es kommt beinahe zum Stillstand. Langsam geht es um die Ecke und ich sehe…, nun, nichts Außergewöhnliches und auch zum Glück nichts Erschreckendes. Der Weg ist frei, alle sitzen auf den Rädern, niemand liegt im Dreck. Nur viel Laub auf dem Boden. Der Moment erinnert mich an meine Kindheit – nicht nur an das Toben im bunten Herbstlaubmeer, sondern an jahreszeitunabhängige Kindergeburtstage voller simpler Freuden. Eine davon war das Spiel "Stille Post", als ein Wort von Ohr zu Ohr wanderte und je nach Hör-, Sprech und Interpretationsfähigkeiten der Teilnehmer wunderbare und manchmal geradezu abstruse Metamorphosen erlebte. Hier wurde zwar nicht geflüstert, aber Gegenwind und eingeschränkte Sicht können einen ganz ähnlichen Effekt erzeugen, der am Ende der Reihe zu Verwunderung, Erstaunen oder – wie in diesem Fall – Verunsicherung führt. Alles in allem also kein Problem, nur ein Missverständnis. Trainer Peter Zaun nimmt dies als Anlass, kurz eine Ansage zu machen: Bitte eindeutige, unmissverständliche Kommandos oder Warnungen, beziehungsweise Handzeichen. Etwas anderes hatte wohl auch niemand im Sinn. Nasses Herbstlaub auf Matsch auf nassem Asphalt hat gerade in nicht einsehbaren Kurven Gefahrenpotential. Zusammen mit Bremsen und Lenken kann es zu plötzlichem, ungewollten Absteigen kommen. Positiv formuliert: Die Gefahr wurde erkannt, benannt und bewältigt. Lediglich der Stressfaktor wurde aufgrund der genannten Effekte unnötig erhöht.
Warum nicht mal so richtig lang sprinten?

Immerhin: Nach diesem "Zwischenfall" macht sich endlich Ruhe im kompletten Feld breit. Ziemlich geordnet, mit klaren Zurufen und Handzeichen zieht die Karawane weiter. Es geht in Richtung "Speedway". Dabei handelt es sich um eine circa sechs Kilometer lange, ehemalige Fördertrasse des Hambacher Tagebaus, die zu einer autofreien Fahrradstraße umgebaut wurde. Das Ding lädt also geradezu dazu ein, mal richtig Gas zu geben. Deshalb wohl der Name, man kann da aber auch langsam langfahren. Die Straße ist breit genug, man steht niemandem im Weg, der es krachen lassen will. Und so gibt Peter die Strecke frei. Das bedeutet, jeder darf so schnell fahren wie er es für angebracht hält, und man darf die Guides Peter und Jürgen K. überholen. Gegebenenfalls. Denn die beiden haben auch vor, es krachen zu lassen. Klar, irgendwie ist es ja auch ihre Aufgabe, an solchen Stellen den nötigen Anreiz zu geben. Einige Guides würden sich vielleicht mit der verbalen Aufforderung zufrieden geben. Peter und Jürgen stürzen sich jedoch mitten ins Getümmel beziehungsweise vorne weg, es bahnt sich so etwas wie ein extrem langer Sprint an, sechs Kilometer ist etwas anderes als ein Ortsschild- oder Zielsprint. Niemand fährt die gesamte Strecke am Limit, aber mitunter nah dran. Peter hat vorher extra nochmal auf einige Dinge aufmerksam gemacht. Mit Köpfchen fahren. Nicht allein die Beine machen einen schnell. Clever fahren. Windschatten suchen. Nur wer fährt im Wind, wenn alle den Schatten suchen? Wie kann man versuchen, es mal eine Zeit lang, kontrolliert anzugehen, wenn Peter rausschwenkt und Dich provoziert?
Alles Fragen, in deren Antworten man die nächsten sechs Kilometer mal reinschnuppern kann. Sie beantworten sich irgendwann. Wenn nicht heute auf dem Speedway, dann sicher im Laufe des Projekts. Dem entsprechend chaotisch geht es mitunter zu, aber es macht in erster Linie mal richtig Spaß. Unterlenker, Attacke, der Rest ist egal – bis dann die Beine schwer werden, denn die sechs Kilometer Ex-Trasse haben auch ein paar nette Wellen zu bieten. Am Ende der Strecke ist mancher ausgelaugt, aber zufrieden.
Politische Wegesranderscheinung

Das ist dann auch einer der Höhepunkte des sportlichen Bildungsauftrages. Diesem folgt wenig später der allgemeinbildende, denn wir passieren den Terra-Nova-Aussichtspunkt am Hambacher Tagebau. Terra Nova, lateinisch für neue Erde oder neue Welt, ist ein interessanter Name für einen Ort, an dem millionen Jahre alte Materie abgebaut wird, klingt aber gut. An dem Aussichtspunkt stehen Sonnenschirme und Liegestühle. Möglicherweise soll so eine Art Strandfeeling erzeugt werden. Wasser und Wellen sind noch nicht auszumachen, dafür aber das größte Loch in Nordrhein-Westfalen.
Das meine ich jetzt nicht gesellschafts-, umwelt- oder sonstwie politisch, sonder ganz nüchtern betrachtet. Auch Kohle, die überirdisch abgebaut wird, gibt es nicht in praktischen, abholbaren Haufen an der Ecke. Sie befindet sich wie vieles andere Wertvolle ein Stück weit unter der Erde, nur nicht ganz so weit. Und um an sie heranzukommen muss man eben Löcher Graben. Je nachdem, was man wo sucht und wie viel davon vorhanden ist, sind die Löcher größer oder kleiner. Das von Hambach ist mittlerweile ziemlich groß. Und an der Frage, wie groß es noch werden soll, scheiden sich – je nach Interessensgruppe – die Geister.

Mancher meint, es sei zu klein, manch anderer findet es zu groß. Diejenigen, die es größer haben wollen, wollten vor nicht allzu langer Zeit dafür viele Bäume fällen. Die, die es bis dato schon für groß genug oder zu groß hielten, solidarisierten sich daraufhin mit der "Hambacher Forst" genannten Gruppe von Bäumen. Und plötzlich interessierte sich die gesamte Bundesrepublik für diesen Wald. Immer mehr Leute solidarisierten sich mit den Bäumen, immer weniger fanden die RWE, die das Loch gräbt und die Bäume fällen wollen, sympathisch. Mitten rein entsandte die nordrhein-westfälische Regierung ziemlich viele Polizisten. So viele, dass man dachte, die Bundesligaspiele Gladbach gegen Köln und Dortmund gegen Schalke fänden gleichzeitig in dem kleinen Städtchen Buir (dort nebenan sind die Bäume) statt. Aber ich schweife ab. Das Loch ist jedenfalls groß, tiefer als der Dom, den wir am 11.11. aber in Kölle lassen, hoch ist. Und es hat – das muss ein Loch erstmal schaffen – mittlerweile gesellschafts-, umwelt- und sonstwie politische Relevanz. Also das perfekte Motiv für ein Gruppenfoto. Zumal sich der umstrittene Wald, in dem nach einer Gerichtsentscheidung nun auch vorläufig wieder Ruhe eingekehrt ist, gut sichtbar auf der gegenüberliegenden Seite des Loches befindet.

Am Ende auch ein Loch in der Konzentration

All diese spektakulären Aspekte dieser Ausfahrt mögen dazu beitragen, dass irgendwann, als wir uns dem Ankunftsort in Köln nähern, die Konzentration immer stärker nachlässt. Lücken reißen, Handzeichen werden nicht mehr gegeben. Übliche Phänomene nach einer gewissen Streckenlänge in der Gruppe. Ich kann es jedoch nicht besser ausdrücken als Peter in seiner Teammail, deswegen sollen seine Worte den Schluss bilden, denn sie beinhalten – all die geschilderten Dinge hin oder her – wohl die wichtigste Erkenntnis der Tour: "Man merkt die Unsicherheiten in der Gruppe immer noch, aber man kann auch sehen das es besser wird […] Das zeigt ein gewisses Maß an Unkonzentriertheit am Ende einer Ausfahrt. Aber auch das gehört zum Training. Neben der Ausdauer (der körperlichen Leistungsfähigkeit) gehört zur Kondition auch die mentale Leistung. Also auch noch nach drei Stunden eine Kurve richtig anzufahren! Es hat sich gezeigt, dass Ihr mit circa drei Stunden Training an der Grenze der Belastung seid, und daher werden wir die Strecken nicht weiter verlängern." Wär doch aber auch schade, wenn wir Mitte November schon alle Ziele erreicht hätten, woran sollten wir dann in den nächsten Monaten arbeiten?
Fitnessidee der Woche: Hinterher schön dehnen
