Somewhere Down in Allrath
Letzte Ausfahrt des Jahres
Eine Ausfahrt noch, am Tag vor Silvester. Das Jahr neigt sich dem Ende, doch das Wintertraining geht weiter. Übliches Sonntagmorgen-Ritual, Kaffee, Musik, kein Frühstück – Nüchterntraining. Draußen rafft sich ein grauer Morgen auf, Jason Boland singt, dass die Sonne scheint – "somewhere down in Texas", ziemlich weit weg von Köln, aber immerhin. Es ist so etwas wie Hoffnung.

Zwischen Keksen und Wachs Gießen

Erstaunlich viele Leute rotten sich zusammen, um dem ausklingenden Jahr noch ein paar Kilometer abzutrotzen, bevor dann morgen Zinn, Wachs oder was auch immer zu gießen. Was auch immer die Zukunft bringen mag, vorher stehen circa 75 Kilometer auf dem Programm inklusive der Allrather Kippe – einmal mehr. Die Vorfreude hält sich bei den meisten in Grenzen, am Tag vor Silvester fühlt sich offensichtlich niemand zu Höherem berufen, der Motivationstank ist nach den Feiertagen nicht gerade üppig gefüllt. Warum auch, Kekse und Couch haben sich in den letzten Tagen bewährt. Doch kaum kommt die Gruppe ins Rollen, beginnt eine fein abgestimmte, gut geölte Maschine zu laufen.

Die vergangenen Sonntage haben sich bewährt, und so ist zur Mitte des Projektes ziemlich Spannung auf dem Zug und Druck auf dem Pedal. Wenn die Motivation langsam ausgeht, greift so eine Art fatalistische Routine: Ist ja nicht zu ändern, da müssen wir jetzt durch, und nachher gibt es mehr Couch und mehr Kekse. Kurz lässt sich auch die Sonne sehen, nickt bestätigend im Rhythmus, feuert ein paar Strahlen zum Gruß ab und verzieht sich wieder, bevor noch irgendwas anbrennt. Kurzzeitig bremst uns ein Defekt aus. Beiläufig beobachtet von einer Herde Schafe, die sich anscheinend fragen, was diese Menschen morgens um Zehn in ihrem Dorf wollen – eigentlich nur durchfahren. Und so geschieht es dann auch, nachdem zu viert gut gelaunt ein Schlauch gewechselt worden ist – einer macht die Arbeit, einer reicht Werkzeug und CO2-Katusche, einer hält das Rad und einer gibt Ratschläge. Alles im Flow. Die Allrather Kippe kommt ja auch erst noch.
Einmal Kraftausdauer, bitte

Tritt für Tritt findet sich jeder mit seinem Schicksal ab, akzeptiert es, setzt es um. Das Objekt der Begierde (für den Trainer und die Masochisten) und des Hasses (für alle anderen) kommt in Sichtweite. Die Topographie rund um die westlich von Köln gelegenen Touristenmagneten Grevenbroich und Allrath ermöglicht es, dass man diese Aussicht ziemlich lange genießen kann, bevor man hochfährt. Egal, aus welcher Himmelsrichtung man kommt, egal auf welcher Straße. Ist ein bisschen so wie Rom, alle Wege führen hin, manche vorbei, mindestens einer hoch, und den hat Peter gewählt.

Bislang hieß es bei den Ausflügen zum Mont Ventoux des Wintertrainings im Westen von Köln: Hochkommen, im eigenen Tempo, in der Komfortzone, im Grundlagenausdauerbereich eins (GA1), dem Schlüssel zum Aufbau und zur Steigerung der Ausdauer und Kondition. Heute darf es mal was anderes sein. Denn wenn etwas GA1 heißt, liegt die Vermutung nah, dass es auch einen zweiten gibt. Und wenn der erste die Komfortzone beschreibt und die mathematischen Grundregeln befolgt werden, dann geht der zweite wohl darüber hinaus. Man nennt den Bereich unter bestimmten Voraussetzungen auch Kraftausdauer. Eine davon ist die niedrige Trittfrequenz, die zwischen 40 und 60 Kurbelumdrehungen pro Minute liegen soll. Man tritt einen entsprechend großen Gang, in diesem Fall bergauf, man muss als ein gewisses Maß an Kraft investieren. Schön, wenn Fachsprache so selbstredend ist.
Nicht entmutigen lassen

Teilweise auf dem großen Kettenblatt geht es also die knapp zweieinhalb Kilometer rauf die Kippe. Das hat am vorletzten Tag des Jahres mitunter unangenehme Folgen. Es zeigt jedem einzelnen die Grenzen der momentanen Leistungsfähigkeit und gibt etwas genauere Auskunft über die aktuelle Form. Und die herrschende Jahreszeit und die mit ihr einhergehenden Bedingungen – niedrige Temperaturen, wenig Sonnenlicht – setzen der Form natürliche Grenzen. Werte aus dem Sommer, als man längere Anstiege schneller erklommen hat, mit niedrigerem Puls, scheinen auf diesem in die Landschaft gepflanzten "Berg" weiter weg als die warmen Strahlen der Sonne, die sich nur sporadisch den Weg durch die Wolkendecke bahnen. Das kann entmutigend sein.

Das Wintertraining geht doch nun schon drei Monate, wann zahlt sich das aus? Diese Frage mag den einen oder die andere auf dem Weg nach Hause beschäftigen, doch der eine Teil der Antwort ist: Es zahlt sich schon aus. Ohne die letzten drei Monate wäre die Form noch "schlechter". Der andere Teil nennt sich Geduld. Seit ein paar Tagen befindet sich die Sonne wieder auf dem Weg nach Norden, in drei Monaten wird sie den Äquator über schreiten. Und so wie der legendäre "Linie" Aquavit während seiner Fahrt über den Äquator reift, so wird auch die Form reifen. Derweil werden die Tage länger, heller und wärmer. Die Voraussetzungen werden besser und mit ihnen wird auch die Form stetig ansteigen. Und dieses gefühlt erbärmliche Hecheln den Berg hinauf wird Früchte tragen. Insofern sollte man die Werte, die sich einem an einem grauen Sonntag kurz vor Jahresende irgendwo bei Grevenbroich offenbart haben, nicht in diesem trüben Licht betrachten. Sondern eher reflektiert am Nachmittag auf der Couch bei Keksen und Kaffee, mit dem Wissen, dass bald der Frühling kommt. Es war die Talsohle. Und dafür war es doch eigentlich ziemlich gut. 2019 kann kommen.