Immer mitten in die Fresse rein
Zu viel Tristesse

Weltwirtschaftsklima so schlecht wie seit sieben Jahren nicht mehr, Gewalt in Venezuela, Stillstand in den USA, wenn Quengeltrump seine Mauer nicht bekommt, harter Brexit, Klimawechsel – man kann die Liste beliebig fortführen. Heinz Rudolf Kunze nannte unsere Zeit, die jüngere Geschichte, kürzlich einen „absteigenden Ast, auf dem wir hocken und an dem wir sägen.“ Das ist sehr viel Tristesse, zu viel für einen Montagmorgen. Wir wollen doch nicht noch weiter hinabgerissen werden, in diesen nimmer endenden Strudel der Horrormeldungen, die am Ende in der Fragestellung gipfeln: Wenn es um die Welt so schlecht steht, ist es dann nicht besser, wenn sie untergeht? Nein, wohl nicht, weil man dann ja auch nicht mehr auf ihr Rad fahren könnte.
Lieber "Feel-Good-Nachrichten" mit vielen Smileys

Deswegen wollen wir "Happy News", den positiven Ansatz, "Feel-Good-Nachrichten", mit vielen Smileys.
- Der positive Ansatz dieser Geschichte von der Tour vorbei am Freiluftaltar Ommerborn – oder „die drei Kreuze“, wie wir es nennen – ist:
- Als wir in Refrath losfahren, regnet es nicht. Und wenn ich zuhause ankomme, wird es nicht mehr regnen.
- Ich sitze auf dem Rad, draußen, nach überstandenem Infekt, und ich fahre
- Es geht an erwähntem Freiluftaltar vorbei, eine meiner Lieblingsstrecken
- Ich darf in Abwesenheit von Guide Inge Daniels Verantwortung übernehmen und als Guide in der Cappuccino-Gruppe einspringen
- Nach der Tour wird es heißen Kaffee und leckeren Kuchen geben, anlässlich des 60. Geburtstages von Guide Jürgen Z. (Herzlichen Glückwunsch noch einmal)
- Es gab diese Tour durch den strömenden Regen am Anfang des Jahres, die heute ist kürzer
Auf Zwift scheint die Sonne - im Bergischen fließt das Wasser über die Straße

Zwischendurch gallert es wie bekloppt, und zwar – wie „Die Ärzte“ das im „Schunder-Song“ ausdrücken – immer mitten in die Fresse rein. Dass es bergauf geht, erkennt man nicht nur an der Anzeige auf dem Tacho oder der Anstrengung, sondern auch an den Sturzbächen, die sich die Straßenseite entlang einem entgegen ergießen. Später reicht die Straßenseite nicht mehr aus, und das Wasser fließt waagerecht über die Straße. Angefacht vom Wind. Wetterexperten sprechen gern von „lebhaft“ mit Böen bis zu 70 km/h und meinen: Es bläst wie blöd, zwischendurch auch mal noch blöder. Das Wasser peitscht ins Gesicht, setzt sich in den Klamotten fest und durchdringt sie, mit einer Geschwindigkeit und Hartnäckigkeit, der man Anerkennung zollen muss. Einmal mehr erkennt der Radfahrer, dass das Prädikat „wasserdicht“ eher Legende ist. Oder eben voraussetzt, dass man an einem Tag wie heute sowieso nicht draußen rumfährt. Tut außer uns auch niemand. An einem Sonntagvormittag im Bergischen Land trifft man normalerweise eine Menge Radfahrer. Ich hab außer den Mitleidenden an meiner Seite heute noch keinen gesehen. Auf Zwift scheint immer die Sonne.
Regenopfer auf dem Freiluftaltar

Trotzdem bin ich froh – naja halbwegs – dass ich bin, wo ich bin. Dass ich wochentags zurzeit oft auf die Rolle umsteigen muss, übersteigt meinen Bedarf an Rollentraining bereits gehörig. Diese Tour heute ist dennoch eine heftige Nummer. Einmal mehr eine Tour für die Moral, und um die ist es heute nicht gut bestellt, nach knapp 30 Kilometern ist sie spurlos verschwunden, kurz hinter den drei Kreuzen.
Zum Glück gibt es das F-Wort
Nun kann man in unserer Gruppe durchaus Unmutsäußerungen loswerden. Doch auch wenn ich „nur“ Ersatzguide bin, die Empfindungen, die hier gerade meine Nervenbahnen durchschießen, sollte ich besser für mich behalten. Stattdessen forme ich mit den Lippen hin und wieder das F-Wort. Und ich esse etwas. Normalerweise tue ich das nicht wegen Nüchterntraining, dadurch neigt man aber mit fortschreitender Fettverbrennung zu Gereiztheit, und die sollte ich mir gerade tunlichst verkneifen.

Ich gebe mich Beobachtungen hin, hauptsächlich, weil es am einfachsten ist, beobachte ich Wasser. Wasser, das vom Himmel fällt. Wasser, das vom Helm auf den Lenker tropft und zu Wasser wird, das vom Lenker zu Boden tropft. Wasser, das von meinem Vorderrad und vom Hinterrad meines Vordermannes hochspritzt. Wasser, das vom Rahmen tropft. Wasser, das aus meiner Kleidung tropft. Wassermassen, die über die Straße fließen. In kleinen Wellen, die man niedlich nennen könnte, wenn sie nicht so Sch.... wären. Manche von rechts nach links, manche von links nach rechts, mehr oder weniger schräg, je nach Wind-, Steigungs- oder Gefällelage.
Wasser, das mir seit geschlagenen zwei Stunden mitten in die Fresse fliegt.
Ich fand Radfahren noch nie so Scheiße.
Trotz der Segnungswünsche am Freiluftaltar (Gott segne und schütze uns): Ich fühl mich verloren und verlassen. Ich will zu Mama, mindestens nach Hause ins Trockene und Warme. Oder in die Toskana (zu Sommerbedingungen, versteht sich).
Wie muss es den anderen gehen? Alle leiden schweigend, das Gesicht vom Regen gezeichnet. Die Temperatur ist mit acht Grad gar nicht so niedrig, nur lassen Regen und Wind einen das nicht so wahrnehmen. Nasse Kälte frisst sich durch die Kleidung, die Haut, die Muskeln bis in die Knochen.
Es ist Wintertraining in Reinform. Es gibt diesen dämlichen Radfahrerspruch: „Gegenwind formt den Charakter“. Aufgrund des Streckenverlaufs und der Windrichtung schult er heute auf der zweiten Streckhälfte, beginnt also so ungefähr kurz nach dem Moralbruch. Und einmal mehr entpuppt sich ein dämlicher Spruch als wahr. Du machst einfach weiter, da muss wohl irgendwo noch ein letzter Rest Moral sein, die einen durchhalten lässt.
Immerhin: Du weißt, dass du nach Hause kommen wirst

Denn es ist ja auch gar nicht so schlimm. Du bist nicht Robert Falcon Scott am Südpol, nicht Ernest Shackleton auf dem Weg nach Elephant Island, nicht John Cozier an Bord der Terror auf der Suche nach der Westpassage oder Percy Fawcett auf der Suche nach versunkenen Stadt Z. Du bist nur ein Idiot, der bei beschissenem Wetter Rad fährt. Freiwillig. Du weißt, dass Du nach Hause kommen wirst. Du weißt, dass Jürgen Kaffee und Kuchen im Auto hat.
Also weiter durch Schmitzhöhe und dann von Immekeppel hoch nach Bärbroich. Mein Lieblingsanstieg, ein Genuss, wenn nicht so ein Wetter ist wie heute. Dennoch versöhnt mich der Anstieg. Von dort aus geht es nur noch bergab, durch Herkenrath und Bergisch-Gladbach Sand nach Refrath und Kaffee und Kuchen. Selten war einfacher schwarzer Kaffee aus Plastikbechern so gut.
Diese Ausfahrt war nicht schön, sie war nicht spektakulär, sie war nicht besonders lang und hatte auch nicht überdurchschnittlich viele Höhenmeter. Sie war ein Paradebeispiel für Moral und Teamwork und deshalb wertvoll und besonders. Mein Dank und meine Anerkennung gilt dem Team.