Das Geheimnis der Kondition
Eine Tragikomödie für 21 Radfahrer*innen in fünf Akten

Zu gutes Wetter?
Es kann beim Rennradwintertraining durchaus vorkommen, dass das Wetter dem Trainer und seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung macht. Meist ist es dann so, dass das Training ausfällt, die Strecke verkürzt werden muss oder gewisse Trainingselemente nicht durchgeführt werden können. Dass das Wetter aber zu gut ist, ist im Februar eher die Ausnahme. Überhaupt, zu gutes Wetter. Gibt es das? Nein, natürlich nicht.

Es gibt nur Trainingseinheiten, die man auch einlegen kann, wenn die Sonne nicht zehn Stunden scheint und es nicht knapp 16 Grad werden. Solche Bedingungen im Februar sind auch eher die Ausnahme. Es war eine kurze knackige intensive Ausfahrt mit Intervallen geplant – das geht auch bei kälter und weniger Sonne. Also kommt am Freitag vor der Ausfahrt am Sonntag die Ankündigung: Viel Sonne, dann viel fahren, und dann viel Eis. „Daher wird es eine lange Ausfahrt mit wenig Höhenmetern, viel Fahrtechnik und Sonne. Geplant sind 73-79km mit ca. 250-350 Höhenmetern. Im Anschluss an die Ausfahrt wollen wir gerne noch die Eissaison eröffnen.“ Heißt es in der Mail von Trainer Peter Zaun.
79 Kilometer? Nur 250 bis 350 Höhenmeter? Im Bergischen? Fahrtechnik? In meinem sechsten Jahr bei „Von 0 auf 60“ habe ich eine ziemlich sichere Ahnung, was das bedeutet. Und in der Tat, ich täusche mich nicht. Peter jagt uns die Sieg runter.
Horror!!!
Nicht falsch verstehen – ich liebe diese sogenannte Sieg-Runde. Wenig Autoverkehr, gute Wege, schöne Landschaft und die Höhenmeter kommen alle zum Schluss – und es sind ja nicht mal besonders viele…
Viele schmale Wege

Sieg und Sonne am Sonntag heißt aber auch: Viel los auf dem schmalen Weg an dem hübschen Fluss. Fußgänger, Jogger, Hunde, andere Radfahrer, flussab und flussauf. Auch so kann es kommen: ein wunderschöner Weg an einem kleinen Fluss ist die Herausforderung des Tages – nicht für die Beine, aber wohl für den Kopf, und das Ganze mit langem An- und Abspann, Konzipiert wie ein Fünf-Akte-Drama. Erster Akt Einführung, für die, die aus Köln mit dem Fahrrad nach Refrath kommen, etwas länger, ansonsten beginnt das Stück um 09.30 Uhr mit der Abfahrt vom Mediterrana, mit einer sich am Schwerpunkt des Inhalts entlanghangelnden Einführung: Ein schmaler Radweg neben den Bahngleisen.
Schnell und einfach kommunizieren

Es ist noch nicht allzu viel los, aber der ein oder andere Fußgänger ist schon auf dem Weg. Zeitung holen, Brötchen holen, mit dem Hund raus, zur Kirche, was auch immer normale Menschen an einem Sonntagmorgen machen. Keine Ahnung, denn ich gehöre nicht dazu. Wir sitzen auf dem Rad, rufen Worte wie „Kürzer“ (bitte etwas Langsamer), „frei“ (es kommt keiner) oder „Poller“ (da steht was im Weg), und geben komische Handzeichen nach hinten weiter, die verschiedene Dinge signalisieren solle: Da ist ein Schlagloch, hier kommen Bahngleis, dort steht rechts oder links was im Weg, bitte einzeln hinter einander fahren, bitte wieder zu weit nebeneinander fahren uswuswusw. Schnelle, einfache auf das nötigste beschränkte Kommunikation, unerlässlich, um als Gruppe von 21 Leuten möglichst schnell und heile einen schmalen Weg hinter uns zu bringen. Gute Übung auf den ersten Kilometern. Wenn das später an der Sieg nicht klappt, wird es unlustig.

Erstes kurzes Intervall

Der Abschnitt ist jedoch relativ schnell vorbei, alles gut gemeistert, wir sind ja auch noch frisch im Kopf. Es kommt der einfache Teil, es geht über Porz, nach Uckendorf – das Uckendorf, wo sich die Lourdes-Grotte befindet, immerhin vier Sterne auf Google Maps, wenn auch nur eine Rezension – in Richtung zweiter Akt, die Spannung wird sukzessive gesteigert, der Weg ist recht gut, Verkehr herrscht so gut wie gar nicht, Zeit für das erste Intervall, raus aus der Komfortzone des Grundlagenausdauerbereiches eins (GA 1) in den Grundlagenausdauerbereich zwei (GA 2), der das Herz etwas höher und schneller schlagen lässt, das Ganze auf gerader Strecke, man kann/muss also schon ziemlichen Speed aufbauen, Ende ist nach circa drei Kilometern auf einer kleinen Brücke vor dem nächsten Ort, die Brücke soll noch einmal hoch gesprintet werden, also für ein zwei Sekunden sogar raus aus dem GA 2 Bereich, das Feld zieht sich auseinander und läuft kurz hinter der Brücke wieder zusammen, um auf den Höhepunkt – den dritten Akt – zuzusteuern, den Weg die Sieg entlang. Peter mahnt noch einmal zur Geschlossenheit und erinnert alle: Kommunikation bitte, Handzeichen, Obacht. Ich beobachte das Ganze vom Ende des Feldes und es ist schon eindrucksvoll, was vor mir passiert.

Es wird spannend
Das Wetter hat in der Tat eine Menge Leute animiert, sich in den Siegauen die Zeit zu vertreiben, gehend, joggend, alleine, zu weit, mit Hund, mit Scooter, mit Fahrrad. Alle sind da, sogar RTL-Aktuell-Sportchef Andreas von Thien, wie ich später auf Instagram sehe.

Die Gruppe schlängelt sich den schmalen Weg entlang, das Tempo ist gemessen an den Bedingungen recht schnell, wir absolvieren die circa zehn bis zwölf Kilometer mit einem Schnitt von 25 km/h, und es ist ordentlich Dynamik drin, Hände fliegen durch die Luft – Achtung hier Schlagloch, hier Fußgänger rechts, hier Skateboarder links. Die körperliche Anstrengung hält sich in Grenzen – wenn man hier alleine fährt, kann man bei gleichem Verkehrsaufkommen locker zehn km/h schneller fahren, ohne annähernd in den roten Bereich zu kommen.

Es ist der Kopf der die Energie zieht, meine Vorderfrau hält einen Finger hoch, aus 21 Leuten, die – bis eben auf mich am Ende – in geordneten Zweierreihen fahren, wird eine langgezogene Einerreihe – ein Ehepaar mit Hund kommt uns entgegen. Kaum sind sie vorbei, zeigt meine Vorderfrau zwei Finger – alle zurück in die Zweierreihe. Es wechselt munter, mal ist rechts ein „Hindernis“, mal links, selten ist der Weg breit genug, um in einer Zweierreihe daran vorbeizufahren. Der Weg ist verwinkelt, viele 90-Grad-Kurven, unter Brücken entlang und durch dunkle Tunnel hindurch. Doch das Feld reist nie auseinander. Vorne gibt Peter das Tempo vor, alle können folgen, trotz des ständigen Wechselns zwischen Einer- und Zweierreihe, lang kurz, schmal, breit. Klappt fast wie am Schnürchen aufgereiht. Schließlich geht es nach rechts ab, zurück auf die Straße, kurze Pause, mal einen Schluck trinken.
Kurz durchschnaufen

Der Höhepunkt ist vorüber, und im vierten Akt beruhigt sich alles wieder ein wenig. Der Kopf darf durchatmen, die Beine sind dran, ein paar Höhenmeter sind zu absolvieren, dann geht es nach Lohmar. Was einzig und allein deswegen erwähnenswert ist, weil es dort einen Saal zu mieten gibt, der das unglaubliche Wortspiel „La Palohmar“ als Namen trägt. Ein komplettes Wochenende kostet übrigens 540 Euro, inklusive Nassreinigung, exklusive Nebenkosten – nur so am Rande des vierten Aktes und der Vollständigkeit halber. Wir haben aber gerade nichts zu feiern – außer vielleicht uns selbst. Und schließlich wird mit dem kurzen schlaglochübersäten Weg durch das militärische „Sperrgebiet“ Wahner Heide der fünfte Akt eingeläutet. Da bleibt man nicht in Lohmar stehen und fängt an zu feiern, nur weil man Wortspiele mag und die Nassreinigung inbegriffen ist. Denn man hat ja in der Schule gelernt: Nach der Beruhigung im vierten Akt, kommt nochmal die Spannungssteigerung und dann das Finale.

Die Steigerung erfolgt auf einer Steigung in gemäßigtem Tempo auf dem knapp vier Kilometer langen Abschnitt der L170 von Kleineichen nach Forsbach. Das spannende Finale ist das zweite GA 2 Intervall – jeder, der Rund um Köln kennt, ahnt es – über die Wellen von Forsbach in umgekehrter Richtung, Kreislauf und Herz in Wallung und den Tacho auf knapp 60 km/h bringen. Im Grunde ein angemessener Abschluss. Aber warum nicht noch ein Eis, wenn die Sonne schon knallt und der Weg zur Eisdiele nicht weit ist? Denn eines ist klar geworden, zur Kondition gehört nicht nur die körperliche Ausdauer. Denn die war auf dieser Runde eher Nebensache. Man muss auch im Kopf fit bleiben, um im Prozess der zunehmenden körperlichen Erschöpfung auch weiter schnell regieren zu können. Mission accomplished – oder, um das Fazit des Trainers zu zitieren: „Dies wurde sehr gut umgesetzt. Die wirkliche Herausforderung lauerte aber an der Sieg. Die Sonne lockte nicht nur Radfahrer an den Fluss, sondern auch Fußgänger mit Kinder und/oder Hunden. Entsprechend musste häufig die Formation gewechselt werden. Hinzu kam das die Strecke auch recht eckig war und der ein oder andere kurze, knackige Anstieg lauerte. Insofern ein Kompliment an alle. Wir sind trotzdem sehr kompakt gefahren und Ihr habt es gut umgesetzt!“
Jecke Pause
Wir übergeben nun die Straße an die Jecken. Wegen des unberechenbaren Aufkommens extrem vieler Scherben und des einen oder anderen Karnevalszuges in den Köln umgebenden Ortschaften, wird man uns nächsten Sonntag nicht als Gruppe antreffen. Den einen oder anderen wird es bestimmt trotzdem nach draußen ziehen. Ich jedenfalls werde da irgendwo jeck rumgurken, hätte man sich doch bloß damals das Mapei-Quickstep-Outfit besorgt…